Psychisch.fit – Digitale Selbsthilfe

Themenbereich A: Soziale Innovation für den Austausch zwischen virtuell und real

Die Ausgangslage

Psychologische Hilfe hat hohe Schwellen: Wer einen Therapieplatz sucht, wartet fast fünf Monate – auf dem Land sogar sechs, in der Großstadt immer noch drei.1 Viele Betroffene geben in der Zwischenzeit auf.2 Wer durchhält, hat oft schon chronische Probleme, bevor eine Behandlung beginnt.3 Die Kapazitäten genügen für etwa 640 Tausend PatientInnen pro Jahr.4 Allerdings leiden jährlich rund 25 mal so viele Personen an behandlungsbedürftigen Beschwerden, ungefähr 30 % der Bevölkerung zwischen 18 und 65,5 aktuell mehr als 16 Millionen Menschen.6 Weil die Angebotslücke so groß ist, werden die Wartezeiten noch länger ausfallen, je bekannter die Behandlungsoptionen werden, und je weiter die Ängste vor Stigmatisierung abnehmen.

Damit es trotzdem genug Hilfe gibt, forschen viele Universitäten an webbasierten Selbsthilfekursen für Depressionen, Angst- und weiteren Störungen.7 Die Forschung zeigt, dass solche Programme ebenso gut wirken wie eine Therapie im Sprechzimmer8 und dass die Erfolge auch langfristig anhalten.9 Dies gilt besonders für Kurse mit einer Begleitperson,10 die Fragen klärt, Fortschritte lobt und Übungen vorschlägt. Diese Hilfestellung vermittelt Motivation, Verbindlichkeit und Empathie, und steigert so die Wirkung der Kurse.11 Die Ausbildung der Begleitung scheint nebensächlich: Psychologische Fachkräfte erzielen dieselben Erfolge wie Ehrenamtliche nach einer kurzen Fortbildung12 oder Verwaltungsmitarbeiter der forschenden Universitäten.13

Ohne Begleitung wirken die Kurse etwas schlechter,14 hauptsächlich weil sie öfter abgebrochen werden.15 Dafür lassen sie sich günstiger verbreiten, weil die Personalkosten entfallen und die technischen Kosten kaum mit der Teilnehmerzahl steigen. Das führt in ein medizinethisches Dilemma: Hilft man lieber wirksam auf Kosten einer geringeren Reichweite – oder erreicht man lieber viele auf Kosten einer geringeren Wirkung?16

Natürlich wäre es am besten, wenn man Wirkung und Reichweite gleichzeitig steigern könnte. Dafür müsste die Begleitung aber in jedem Fall günstiger werden. Dann könnte man begleitete Programme genauso leicht verbreiten wie unbegleitete. Aber wie findet man Menschen, die ohne kommerzielles Interesse als Begleitung einspringen? Oder besser noch: Die Spaß daran haben und selber sogar davon profitieren würden? Zur Erinnerung: Therapeutisch wirksam ist das Programm mit seinen Inhalten und Übungen; die Begleitung soll hauptsächlich unterstützen und motivieren.17 Ersten Studien zufolge können das auch Ehrenamtliche18, Angehörige19 oder andere Betroffene20 leisten – wenn man ihnen zeigt wie und dafür sorgt, dass es Spaß macht.21 Aus der 30 Jahren analoger Selbsthilfegruppenerfahrung heraus bestätigt das auch die Deutsche Angst-Hilfe e. V.

Die Lösung

Selbsthilfegruppen sind heute schon weit verbreitet. Sie versammeln Menschen, die ihre persönliche Entwicklung anpacken wollen und anderen gerne dabei helfen. Wenn man psychologische Online-Kurse für Selbsthilfegruppen anpasst und öffnet, profitieren die Mitglieder von klinisch erprobten, wirksamen Werkzeugen und gleichzeitig von einem stützenden und förderlichen sozialen Rahmen. Es stärkt den Gemeinsinn und den emanzipatorischen Geist, seine persönliche Entwicklung aus eigener Initiative zu meistern. Gleichzeitig schafft es ein wirksames Angebot, das ohne Wartezeiten allen offensteht und bei den bestehenden Versorgungslücken zu einer wertvollen Ergänzung der öffentlichen Gesundheitspflege wird.

Zur Umsetzung

In seiner Promotion hat Timo Stolz (Antragsteller 1) eine Smartphone-App für Menschen mit sozialer Angststörung entwickelt und klinisch erprobt.22 In einer Kooperation mit der Deutschen Angst-Hilfe e. V. (Antragsteller 2) und der Universität Bern (Antragsteller 3) entwickelt er diese App grundständig neu, mit und speziell für Selbsthilfegruppen. Das Programm eignet sich für Gruppen und Einzelpersonen: Es bietet Aufgaben mit virtuellem Peer-Support, aber auch für echte Zusammenarbeit vor Ort. Das Programm bahnt und stärkt den Kontakt zu regionalen Selbsthilfegruppen und verbindet damit virtuelle und reale Unterstützungsmöglichkeiten.

Das ausgeschriebene Preisgeld ermöglicht, die Konzeptentwicklung mit wertvoller Expertise zu ergänzen, vor allem dazu, wie man virtuelle und Vor-Ort-Zusammenarbeit gut verbindet und wie man weitere Personen, z.B. Angehörige oder TherapeutInnen, sinnvoll integrieren kann – in Entwicklung und Nutzung. Fragen für die Begleitforschung sind zunächst Akzeptanz bei einzelnen Betroffenen, bei Selbsthilfegruppen und außerdem, wie die Werkzeuge im Alltag eingesetzt werden. Das ermöglicht eine Verbesserung, bevor in einer Erprobungsphase auch die klinische Wirksamkeit auf dem Prüfstand steht.

Zu den Antragstellern

  1. Timo Stolz ist Diplom-Psychologe und MSc für praktische Informatik. Seit zwei Jahren arbeitet er als freiberuflicher Software-Entwickler. Zudem promoviert er als Psychologe an der Uni Bern. In Forschung und Beruf liegt sein Schwerpunkt auf E-Mental-Health-Anwendungen.
  2. Die Deutsche Angst-Hilfe e. V. ist der gemeinnützige Nachfolgeverein der Angst-Hilfe München e. V. und besteht seit 1990. Es handelt sich um eine Betroffeneninitiative und einen Bundesverband für Angstselbsthilfegruppen in ganz Deutschland. Die Deutsche Angst-Hilfe e. V. erhält Fördergelder aus der Selbsthilfeförderung nach §20h SGB V.
  3. Prof. Dr. Thomas Berger (Universität Bern) forscht seit über 10 Jahren zu E-Mental-Health-Anwendungen und koordiniert die Begleitforschung zum Projekt.

  1. BPtK, 2018 (S. 14)

  2. Ebd.

  3. Ebd.

  4. Schulz et al., 2011 (S. 374)

  5. Wittchen und Jacobi, 2011 (S. 74)

  6. Statistisches Bundesamt, 2019

  7. Hedman et al., 2014

  8. Andersson et al., 2014

  9. Hedman et al., 2011

  10. Baumeister et al, 2014

  11. Paxling et al., 2013

  12. Richards et al., 2016

  13. Titov et al., 2010

  14. Baumeister et al., 2014

  15. Meyer et al., 2009

  16. Bernecker et al., 2014

  17. Paxling et al., 2013

  18. Richards et al., 2016

  19. Roepke et al., 2015

  20. Morris et al, 2015

  21. Roepke et al., 2015

  22. Stolz et al, 2018